Wie löst man das synoptische Problem? – 4. Gedächtnispsychologische Analogien + 5. Die wahrscheinlichste Antwort

Zur Lösung des synoptischen Problems können neben synoptischen Texten aus mündlichen Kulturen auch synoptische Befunde aus der Gedächtnispsychologie einen wesentlichen Beitrag leisten. Solche interdisziplinären Beiträge aus Nachbardisziplinen ermöglichen eine besser begründete Antwort auf die synoptische Frage.

In der vierten Folge geht es um relevante Forschungsergebnisse aus der experimentellen Gedächtnispsychologie der letzten 100 Jahre. Zur Beantwortung der synoptischen Frage können sie folgende Erkenntnisse beisteuern:

  1. Die synoptischen Paralleltraditionen mit ihrem geringen Umfang waren für das Gedächtnis eines antiken Juden, der in einer Gedächtniskultur aufgewachsen war, gut zu bewältigen.
  2. Die erhöhte Wortlautidentität im poetisch geformten Parallelstoff der Synoptiker spricht dafür, dass an seiner Entstehung das menschliche Gedächtnis beteiligt war, das durch Wiederholung entlastet wird.
  3. Die Kombination von großer Übereinstimmung im Inhalt bei geringer Übereinstimmung im Wortlaut spricht dafür, dass an der Entstehung der synoptischen Paralleltraditionen das menschliche Gedächtnis beteiligt war, das sich Inhalte besser merken kann als Formulierungen.
  4. Da das menschliche Gedächtnis dazu neigt, entbehrliche Textelemente auszulassen, sprechen die Überhänge der Markusperikopen dafür, dass Markus in der Mehrzahl seiner Perikopen eine etwas ursprünglichere Form der Tripeltradition bewahrt hat als Matthäus (= relative Markuspriorität).
  5. Dass die Wortlautidentität zwischen den synoptischen Parallelperikopen der Wortlautidentität zwischen Paralleltexten aus der experimentellen Gedächtnispsychologie sehr ähnlich sieht, passt zu der These, dass bei der Entstehung der synoptischen Paralleltraditionen das menschliche Gedächtnis eine entscheidende Rolle gespielt hat.
  6. Dass Minor Agreements in auswendig reproduzierten Textfassungen auf natürliche Weise vorkommen, spricht ebenfalls dafür, dass bei der Entstehung der synoptischen Paralleltraditionen das menschliche Gedächtnis eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Die fünfte Folge bietet ein Gesamtfazit: Der wissenschaftliche Gesamtbefund spricht für eine modifizierte Traditionshypothese (bzw. für eine in Richtung Traditionshypothese weiterentwickelte Zweiquellenhypothese). – Dieses Ergebnis gilt selbstverständlich nur bis zum Erweis des Gegenteils: Falls gezeigt werden kann, dass es auf einem Abschreibeverhältnis beruhende antike (oder moderne) Paralleltexte gibt, die den synoptischen Befund genauso gut oder besser erklären können, ist dadurch die hier begründete Erklärung relativiert oder sogar widerlegt.