Der historische Wahrheitsanspruch des Neuen Testaments: Haben die neutestamentlichen Erzähler zwischen Fiktion und historischer Wahrheit unterschieden?

Das Thema geht für mich biografisch zurück bis in meine Schulzeit. Im Religionsunterricht am Gymnasium hatte ich als junger und ziemlich unerfahrener Christ den Wunsch, dass wir auch mal im Neuen Testament lesen sollten, vor allem in den Evangelien. Ich habe das immer mal wieder vorgeschlagen. Aber mein Religionslehrer war zwar friedensbewegte und so weiter, aber kein großer Bibelleser. Er hat damals argumentiert, in den Evangelien etwas über Jesus von Nazareth nachzulesen, habe gar keinen Sinn. Denn die Autoren des Neuen Testaments hätten einen ganz anderen Wahrheitsbegriff gehabt als wir heute. Im Unterschied zu uns konnten sie nicht zwischen historischer Wahrheit und frei erfundener Fiktion unterscheiden. Darum dürften wir nicht in der Erwartung an diese biblischen Texte herangehen, darin etwas Belastbares über Jesus von Nazareth zu erfahren. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir im Religionsunterricht dann auch nie gemeinsam im Neuen Testament gelesen. Mich hat diese Frage nach dem Wahrheitsbegriff aber weiter beschäftigt und ich habe mich gefragt: Kann das sein, dass die Leute vor 2000 Jahren viel unklarer gedacht haben als wir heute? …

Kannte Paulus das Konzept einer homosexuellen Orientierung?

(Besprechung von) W. R. G. Loader, Sexuality and Gender. Collected Essays (WUNT 458), Tübingen: Mohr Siebeck, 2021, in: Theologische Literaturzeitung 147 ( 2022) 211-214:

William Loader ist der Überzeugung, dass Paulus jegliche Form homosexuellen Verlangens und Verkehrs abgelehnt hat: Im frühen Judentum wurde homosexuelles Verhalten ausnahmslos abgelehnt. Loader zieht u.a. Philo heran, der nicht nur die Päderastie, sondern auch den einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Verkehr Erwachsener verurteilte. Philo kannte zwar den in Platos „Gastmahl“ von Aristophanes vorgetragenen Mythos vom Kugelmenschen, der zwischen von Natur aus heterosexuellen und von Natur aus homosexuellen Menschen unterschied; dennoch lehnte er unter Berufung auf die biblischen Schöpfungserzählungen jedes homosexuelle Verhalten ab. Loader hält es für wahrscheinlich, dass auch Paulus die (nicht nur) bei Plato nachweisbare Unterscheidung zwischen verschiedenen sexuellen Orientierungen bekannt war; weil Paulus sich an einer göttlichen Schöpfungsordnung orientierte, habe er jedoch wie Philo auch den homosexuellen Geschlechtsverkehr homosexuell orientierter Partner abgelehnt. Paulus habe sein negatives Urteil auch nicht auf homosexuellen Verkehr mit Minderjährigen oder Slaven beschränkt …

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Verlangte Jesus bei Ehebruch die Scheidung?

(Besprechung von) W. R. G. Loader, Sexuality and Gender. Collected Essays (WUNT 458), Tübingen: Mohr Siebeck, 2021, in: Theologische Literaturzeitung 147 (2022) 211-214:

William Loader vertritt die These, dass sowohl der historische Jesus und die Synoptiker als auch der Apostel Paulus der Ansicht waren, Ehebruch erzwinge die Ehescheidung: Nicht nur im Alten Testament, sondern auch im antiken Judentum stand auf Ehebruch die Todesstrafe. Wo den Juden die Verhängung der Todesstrafe verboten war, wurde eine gebrochene Ehe geschieden. An diese Regel hielt sich auch Joseph in der Weihnachtsgeschichte. Eine Ehefrau, die mit einem anderen Mann geschlafen hatte, galt aufgrund dessen für ihren Ehemann als unrein. Außerdem bestand die Gefahr, dass sie ein außerehelich gezeugtes Kind zur Welt brachte. Auch im griechischen und römischen Recht erzwang Ehebruch die Scheidung …

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Warum hat Paulus Frauen lange und Männern kurze Haare empfohlen? (Podcast)

Es gibt Bibelstellen, bei denen nicht gleich klar ist, wie man sie verstehen soll. Vor allem, weil sie gar nicht direkt in unsere heutige Lebenswelt hineinpassen. Eine solche Stelle ist die Aufforderung des Apostels Paulus, dass Frauen lange und Männer kurze Haare tragen sollen (1 Kor 11,13-16). Was hat es mit dieser Anweisung auf sich? Und inwiefern ist sie heute noch gültig?

Podcast anhören: https://www.fthgiessen.de/warum-hat-paulus-frauen-lange-und-maennern-kurze-haare-empfohlen/

Kernthemen neutestamentlicher Theologie

Hg. Armin D. Baum / Rob van Houwelingen, Gießen: Brunnen, 2022 (375 Seiten)

Das Neue Testament ist ein Sammelwerk von Texten vieler verschiedener Autoren mit ganz verschiedenen Gattungen und noch mehr theologischen Themen und Einsichten. Was sind die roten Fäden, die sich durch das Neue Testament hindurchziehen?

In diesem Themen- und Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie entfalten 18 internationale Theologinnen und Theologen die theologischen Kernthemen des Neuen Testaments. Integriert werden auch selten berücksichtigte Fragen wie die nach Offenbarung und Geschichte, Heiden- und Judenmission, Leiden und Verfolgung, Gebet und Gebetserhörung.

Die Autoren sehen die neutestamentlichen Schriften als höchste Autorität in allen Fragen des christlichen Glaubens und bringen so die Botschaft des Neuen Testament auch für heute zum Klingen. Jedes Kapitel mündet in einen Ausblick auf die aktuelle Relevanz des Themas für den einzelnen Christen bzw. christliche Gemeinden und Kirchen.

Ein Lehrbuch nicht nur für Theologiestudierende und Pastoren, sondern auch für theologisch interessierte Bibelleser.

Jesus als einzigartiger Gottessohn: „Hohe“ und „niedrige“ Christologie bei Johannes und den Synoptikern

in: Kernthemen neutestamentlicher Theologie, Gießen: Brunnen, 2022, 60-75:

„Der durchschnittliche Bibelleser findet in allen vier kanonischen Evangelien eine hohe Christologie und liest sie unbefangen in der Annahme, alle vier zeigten uns Jesus als den einzigartigen Sohn Gottes, der mehr ist als ein Mensch. Ein genauerer Blick auf den unterschiedlichen Sprachgebrauch der Synoptiker und des Johannesevangeliums zeigt, dass diese Annahme nicht zutrifft …“

Wie löst man das synoptische Problem? – 4. Gedächtnispsychologische Analogien + 5. Die wahrscheinlichste Antwort

Zur Lösung des synoptischen Problems können neben synoptischen Texten aus mündlichen Kulturen auch synoptische Befunde aus der Gedächtnispsychologie einen wesentlichen Beitrag leisten. Solche interdisziplinären Beiträge aus Nachbardisziplinen ermöglichen eine besser begründete Antwort auf die synoptische Frage.

In der vierten Folge geht es um relevante Forschungsergebnisse aus der experimentellen Gedächtnispsychologie der letzten 100 Jahre. Zur Beantwortung der synoptischen Frage können sie folgende Erkenntnisse beisteuern:

  1. Die synoptischen Paralleltraditionen mit ihrem geringen Umfang waren für das Gedächtnis eines antiken Juden, der in einer Gedächtniskultur aufgewachsen war, gut zu bewältigen.
  2. Die erhöhte Wortlautidentität im poetisch geformten Parallelstoff der Synoptiker spricht dafür, dass an seiner Entstehung das menschliche Gedächtnis beteiligt war, das durch Wiederholung entlastet wird.
  3. Die Kombination von großer Übereinstimmung im Inhalt bei geringer Übereinstimmung im Wortlaut spricht dafür, dass an der Entstehung der synoptischen Paralleltraditionen das menschliche Gedächtnis beteiligt war, das sich Inhalte besser merken kann als Formulierungen.
  4. Da das menschliche Gedächtnis dazu neigt, entbehrliche Textelemente auszulassen, sprechen die Überhänge der Markusperikopen dafür, dass Markus in der Mehrzahl seiner Perikopen eine etwas ursprünglichere Form der Tripeltradition bewahrt hat als Matthäus (= relative Markuspriorität).
  5. Dass die Wortlautidentität zwischen den synoptischen Parallelperikopen der Wortlautidentität zwischen Paralleltexten aus der experimentellen Gedächtnispsychologie sehr ähnlich sieht, passt zu der These, dass bei der Entstehung der synoptischen Paralleltraditionen das menschliche Gedächtnis eine entscheidende Rolle gespielt hat.
  6. Dass Minor Agreements in auswendig reproduzierten Textfassungen auf natürliche Weise vorkommen, spricht ebenfalls dafür, dass bei der Entstehung der synoptischen Paralleltraditionen das menschliche Gedächtnis eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Die fünfte Folge bietet ein Gesamtfazit: Der wissenschaftliche Gesamtbefund spricht für eine modifizierte Traditionshypothese (bzw. für eine in Richtung Traditionshypothese weiterentwickelte Zweiquellenhypothese). – Dieses Ergebnis gilt selbstverständlich nur bis zum Erweis des Gegenteils: Falls gezeigt werden kann, dass es auf einem Abschreibeverhältnis beruhende antike (oder moderne) Paralleltexte gibt, die den synoptischen Befund genauso gut oder besser erklären können, ist dadurch die hier begründete Erklärung relativiert oder sogar widerlegt.